"Pop.documents"

von Lutz Hagestedt und Mischa Gayring (Hg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

Connecting People

von: Anette Müller

1 Kurzmitteilung erhalten. Evas Mobiltelefon piepst zweimal. Ein Donnerschlag erschüttert das Haus. Eva ignoriert das Handy und steht auf, um den Regen an ihr Küchenfenster klatschen zu sehen. Wie eine kleine, sehr nasse Lawine rollt der Regen die Dächer und die Straße hinunter. Eine winzige Spinne am Blumenkasten kämpft um den Erhalt ihres Netzes im Platzregen, flitzt von einer Seite zur anderen, flickt hier, flickt dort. Kommt dir das irgendwie bekannt vor, fragt Eva sich. Der Wind zerweht die Mühe der Spinne in einer einzigen Sekunde. Sie flüchtet in ein Schlupfloch. Der Regen lässt nach, ist nur noch ein winziges, leises Tröpfeln. Eva fragt sich, ob sie ein Leben ganz auf sich allein gestellt jemals so geduldig ertragen würde wie diese Spinne. Ihre Knochen fühlen sich an wie Blei. Sie zündet sich eine Zigarette an und nimmt das Handy in die Hand. Marcos Name erscheint auf dem Display: "Rauch nicht soviel. Kuss, Marco." Eva blickt dem Rauch ihrer Zigarette hinterher und denkt über eine Antwort nach. Kurzmitteilung verfassen. "Letztendlich möchte ich vielleicht nur von jemandem gerettet werden." Speichern.

Sie sucht seine Augen sofort, als sie das Haus der gemeinsamen Freundin - seiner Ex - betritt. Kein Blick von ihm, den sie nicht mit den gemeinsamen Freunden teilen muss. Eva sehnt sich danach, Marco anzufassen. Beim Kochen steht er ganz nah neben ihr; beiden tränen die Augen, weil Eva Zwiebel schneidet. Nur einen kurzen Moment sind sie allein in der Küche. Marco redet, immerhin über persönliche Dinge. Sie sieht ihn an und möchte ihn mit ihrem Mund zum Schweigen bringen.

Trotz der Kälte geht sie nach dem Essen in den Hof, um zu rauchen. Sie tut es nur, damit er ihr folgen kann. Er braucht fast eine Zigarettenlänge dafür. Eva blickt in den sternenklaren Himmel und rutscht auf der kleinen Holzbank hin und her. Nur das Küchenfenster wirft Licht in den Hof. Sie beobachtet die anderen, die abräumen, reden, spülen und lachen. Seine Silhouette steht in der Haustür, dann betritt er den Hof, lässt sich Feuer geben. Er ruft die Nachbar-Katze und krault sie, kniet am Hoftor. Sie zündet sich eine zweite Zigarette an, um nicht ins Haus gehen zu müssen. Die Zigarette schmeckt nicht, sie hält sie nur in der Hand. Sie findet keine Worte und friert. Kurzmitteilung verfassen. "Wäre ich mutig, würde ich dich fragen, ob unser Austausch von SMS in den letzten Wochen etwas zu bedeuten hat." Speichern. Die Haustür fliegt weit auf, als sich ihre Gedanken in ihrem Mund gerade zu Wörtern formen. Der Moment geht verloren, als Tanja unbedingt nach Luft schnappen muss.

Als sie aufbrechen will, streikt der Reißverschluss ihrer Jacke. "Soll ich dich anziehen?", fragt er mit diesem Grinsen im Gesicht. Seine Ex-Freundin steht neben ihm. Eva möchte ihm sagen, er solle sie lieber ausziehen. Aber natürlich bleibt die Jacke offen und sie still.

Keine neuen Mitteilungen. Zwei Wochen gibt ihr Handy keinen Ton von sich. Eva steht jeden Abend am Fenster ihres Ferienhauses und blickt über Loch Awe, während die Sonne als glutroter Feuerball hinter den schottischen Bergen untergeht. Kurzmitteilung verfassen. "Liebe ist eine Illusion. In Zukunft werde ich mich weigern, mein Herz zu verschenken. Du kannst nur ein Irrtum sein. Du willst mich nicht haben, nicht wirklich." Anzeige löschen.

Er kommt zum Essen, den Sekt in der Hand, vor ihm betreten die Freunde die Wohnung. Eine Umarmung. Marco erscheint als Letzter in der Tür. Ihr ist längst ein Schrecken durch die Glieder gefahren, aus Angst, er sei nicht mitgekommen. Eva hat gekocht, als ginge es um ihr Leben. Er blickt sie an, nur sie, wenn er etwas erzählt. Sie hält seinen Blick in ihrem fest, als er das Essen lobt. Kurzmitteilung verfassen. "Das könntest Du jeden Tag haben. Naja, fast jeden." Speichern. Er kommentiert jedes Urlaubsfoto, auf dem sie zu sehen ist. "Bleib.", möchte sie sagen. Er bleibt Stunden und geht viel zu früh.

Sie trinkt mit Birte im Hugo's den vierten Prosecco, erzählt von Marco. Der Alkohol prickelt in ihrem Magen. Eva vermisst ihn, Birte feuert sie an. Kurzmitteilung verfassen. "Möchte nur wissen, wie es dir geht. Gruß und Kuss." Senden. Sie schaltet das Handy aus und fürchtet, dass er nicht antwortet. Zwei Tage schleicht sie um das Handy herum, starrt es wie hypnotisiert an und traut sich nicht, es einzuschalten. Sein Schweigen könnte sie nicht ertragen. Du bist lächerlich, sagt Eva zu ihrem Spiegelbild. Ihre Nebenhöhlen schmerzen und der Kopf ist schwer. Auf der Suche nach Mitleid schaltet sie das Handy ein. 1 Kurzmitteilung erhalten. Eva legt sich ins Bett und hält den Atem an. "Mir geht es gut! Schön, dass du mir schreibst. Liege schon im Bett. Wünsche Dir süße Träume. Kuss, Marco." Antworten. "Habe die Grippe. Wann sehen wir uns? Kuss." Nachricht gesendet.

Er sitzt ihr gegenüber. Eva traut sich nicht, ihn anzusehen. "Soll ich uns morgen Nudeln kochen?", fragt ihn die gemeinsame - seine Ex - Freundin. "Hab ich gesagt, dass ich morgen vorbeikomme? Ich habe keine Zeit", blafft er. Eva grinst. Kurzmitteilung verfassen. "Du könntest das Beste sein, was mir im Leben passiert. Ich bin nur so entsetzlich feige... Ich möchte dir alle meine Geheimnisse verraten und wünschte, ich wäre eine bessere Person, nur für dich." Speichern. Marco probiert von ihrem Teller. Die Ex-Freundin erzählt, dass sie Urlaub hat. Marco auch. Eva atmet tief durch. "Fahrt Ihr weg?" Marco blickt ihr in die Augen. "Ich weiß nicht, ob sie wegfährt." Er nickt der Ex zu. "Ich fahre jedenfalls nicht weg." Evas Freundin Tanja, die als einzige Bescheid weiß, tritt sie unter dem Tisch. Er berührt sie nur beim Abschied, in einer langen Umarmung. Eva geht zu ihrem Auto, trägt ihren Atem in kleinen weißen Wölkchen vor sich her. Speichern.

Das Handy leuchtet grün in der Dunkelheit ihrer Tasche. 1 Kurzmitteilung erhalten. Marco. "Wir könnten mal wieder was zusammen machen. Sag einfach Bescheid. Kuss, M." Auf dem Weg zum Bus, im Laufen, schreibt sie zurück. Antworten. "Wozu hast Du Lust? Weihnachtsmarkt oder sollen wir was in Deiner Ecke machen? Kuss!" Kurzmitteilung senden. Kurzmitteilung gesendet. "Deine virtuellen Küsse kann ich nicht mehr zählen. Ab wann kann ich anfangen, die realen Küsse zu zählen?", schreibt Eva. Speichern. Anzeige löschen. Es sollte eine Taste "Unter keinen Umständen absenden" geben, denkt sie.

"Weihnachtsmarkt! Sagst du mir noch mal Bescheid? Kuss, Marco.", liest Eva, als sie nach Hause kommt. Sie dreht ihre Stereoanlage auf. "Can't get you out of my head". Er gibt ihr nicht einmal fünfzehn Minuten. Piep. "Bekomme ich keine Antwort?" "Du doch immer. Ich schicke Dir eine Eule wegen des Weihnachtsmarkts.", Evas Finger fliegen über die Handytasten. "Ich bin doch immer so ungeduldig. Ich nehme aber nur weiße Eulen auf. Ist das ok?" "Aber Hedwig müssen sie nicht heißen, oder?" Kurzmitteilung gesendet. Optionen: Ende. Abschalten.

PIN eingeben. Ok. Keine neuen Mitteilungen. Vor ihrem inneren Auge ist sein Lächeln wie ein Feuerwerk. "I keep on falling in and out of love with you". Eva verbringt die Tage damit, ihr Mobiltelefon ein- und auszuschalten, auf das vielversprechende Piepsen zu warten. Stille. Er ist dran, sich zu melden, denkt sie trotzig. Sie geht auf eine Party und versucht sich selbst zu überlisten. Ein letzter Blick auf das Display, noch einmal die Mailbox abhören. Sie haben keine neuen Nachrichten. Sie schaltet das Handy aus und mischt sich unter die Leute. Wenn ich nachher gehe, flüstert sie sich zu, wird er mir geschrieben haben. Sie trinkt Rotwein und Tequilla, um die Leute zu ertragen. Die Uhr zieht ständig Evas Blicke auf sich. Jede Stunde ärgert sie sich, den Bus nach Hause verpasst zu haben, bis sie vergisst, daran zu denken. Die Musik ist schlecht und ihre Freundin lässt sich seit Stunden von einem Arschloch vollquatschen. Sie beobachtet Mädchen, die mit langen Wimpern blinzeln und Belanglosigkeiten mit dem anderen Geschlecht austauschen. Eine, die die Party mitorganisiert hat, hält vor ihren Freunden Monologe. Ihre Geschichten ringen Eva nicht ein müdes Lächeln ab, aber die Freunde versuchen nicht einmal, den Redestrom auch nur mit einem Satz aufzuhalten. Ein langhaariger Chorknabe nimmt neben Eva Platz und zwingt ihr ein Gespräch über freien Journalismus auf; die Hühnerbrust stolz geschwellt, als er von seinen Erfolgen berichtet. Eva nickt jeden seiner Sätze ab und grinst bei dem Gedanken, dass Marco ihn hassen würde. Sie fühlt sich sehr weit weg von den Leben dieser Leute, ärgert sich über ihre neue Unfähigkeit, Spaß zu haben und lässt ihre Augen die Konturen der Schatten an den Wänden verfolgen, um sich wach zu halten. Eva braucht bis Mitternacht, um wenigstens einmal laut zu lachen. Sie weiß längst, dass das an ihr und nicht an der Party liegt. Ich lebe in der Zukunft - und zwar nur dort, denkt sie mit Selbstverachtung. Ich warte auf etwas, das möglicherweise niemals eintritt. Sie hält der Freundin ihr Glas hin. "Mehr Rotwein!", ruft sie, steht auf und geht tanzen. Sie stellt sich vor, dass Marco versucht, sie anzurufen. Sieht, wie seine Finger ihre Nummer wählen, während sie einen tiefen Schluck Rotwein nimmt und den Bass im Bauch spürt. Dies ist die Mailbox von Eva. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piepton. Oder lassen Sie es bleiben. Speichern.