"Pop.documents"

von Lutz Hagestedt und Mischa Gayring (Hg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

bergsee

von: Charlotte Inden

Hätte die Luft nach Salz gerochen, wären sie am Meer gewesen. Aber sie roch nicht nach Teer und Algen, nach Sommer, das schon, aber nicht nach Meer. Das Wasser klatschte weiter gegen die Steine. Schwappte zögerlich bis zu ihren Füßen.

"Denkst du auch daran?"

"'türlich. Wie früher. Du darfst nur nicht die Augen aufmachen."

Ana aber blinzelte. Der Leman lag blau. Blinzelte auch ein wenig, weil ihn die Sonne blendete. Boote dümpelten. Die sanfte Brise schüttelte Klatschmohn und wiegte Sonnenblumen. Ana legte der langgestreckten Frederike die Hand auf den Scheitel. Das Haar glühte. Aber Ana konnte die Hand nicht mehr wegnehmen, es war zu heiß für jede weitere Bewegung.

Segel blähten sich in plötzlich auffrischendem Wind.

Als sie aus dem Wagen stiegen, hörten sie die Fahnenseide knattern. Heute war Leman grau und ungehalten. Unruhig trieb der Wind die Wellen vor sich her. Weiß bemützt rollten sie dahin. Tief hing der Himmel. Die Masten stachen fast hinein.

Ana bohrte Frederike die Nase in den Nacken: "Hast du Angst?"

Frederike drehte sich nicht um, nickte aber. "Total", sagte sie.

"Mir ist ganz schlecht", flüsterte Ana noch schnell, dann fragte Andreas, ob sie denn heute noch aussteigen wollten.

Ana hatte zu wenig Hintern für ihren Neopren. Frederike sah in ihrem aus, als wäre sie bereit, die Welt zu umsegeln. Sie sahen sich an und hatten dasselbe Grinsen im Gesicht. Wie früher, dachte Ana und freute sich.

"Es geht nicht weg, oder?", fragte Ana und zog ihre Mundwinkel nach unten. Frederike lachte.

Andreas baute ihnen das Boot auf. Kein Laser zum Glück, damit wären sie sofort gekentert.

"Und das hält?", Ana starrte auf den Knoten am Großsegel.

"Klar", Andreas zog und zerrte versuchsweise an diversen Seilen, "ich glaub, das ist für das Schwert." Frederike hing neben ihm über den Bootsrand, wollte wissen, was sie mit der Fock tun sollte.

"Das mach ich", Ana tippte sich auf die Brust.

"Das macht Ana", Andreas schubste den Condor auf den Weg. Sie zogen und zerrten, bis ihnen der Leman bis zur Brust reichte. Immer wieder wollte der Wind das Boot zurück auf's Ufer drängen. Das Wasser stieg in Anas Neopren immer höher.

"Mein Hintern ist ja jetzt schon nass und kalt", klagte sie.

"Das ist normal", Frederike zog sich ins Boot. Ana fand es auf einmal riesengroß, musste zum Rand hinauflangen, saß endlich auch.

"Die ersten Schrammen hab' ich schon", jammerte sie. Frederike reagierte nicht, zog die Pinne hin und her, suchte den Wind und fand ihn schließlich. Das Segel blähte sich, Ana löste die Fock. Sie rollte sich auseinander, Ana ließ Leine. Beide Segel füllten sich mit Wind. Auf und ab folgte der Condor den Wellen.

"Mein Gott", schrie Ana, "das sind ja richtige Täler."

Frederike lachte, steuerte härter an den Wind. Sie wurden schneller, Ana verhakte die kalten Füße in den Gurten und hing sich über Steuerbord. Lachte laut. Frederike saß tiefer, näher zum grauen Wasserspiegel, sah zu Ana hinauf, lachte ebenfalls. Dieses Lachen geht auch nicht weg, dachte Ana.

"Klar zur Wende", rief Frederike und riss die Pinne herum. Gleichzeitig tauchten sie unter dem umschwenkenden Baum hindurch. Wie das funktioniert, dachte Ana und ließ die Fock wieder frei, Frederike zurrte das Großsegel fest. Ihre Augen strahlten, das Haar klebte ihr am Kopf. Ana griff sich unwillkürlich an den eigenen. Merkte erst jetzt, dass Wasser von oben und von unten kam. "Es regnet sogar seitlich!" Das Wasser war überall, traf immer zuerst sie, wenn der Bug sich aus der Höhe wieder auf den Leman senkte.

"Du Wellenbrecher", Frederike lachte die nasse Freundin aus. "Klar zur Wende."

"Das ist was anderes als unser Stausee", schrie Ana noch, als der Baum fiel.

Es war der Sommer, bevor Frederikes Vater starb. Sie waren mit dem Gummiboot unterwegs. Hatten es über die Wiesen getragen, sich schimpfend abgewechselt. Und Ana war sauer auf den kleinen Tom, weil er zu klein zum Tragenhelfen war. Aber groß genug zum Mitfahren. Schließlich trugen Frederikes Papa und Anas Papa das Boot alleine. Am offenen Meer konnten sie es nicht benutzen. Wie die Orgelpfeifen liefen Kinder hinter ihnen her. Frederike, Ana, Jan, der Frederikebruder, und Tom, der Anabruder. Tom trug seine Schwimmweste. Frederike das Fresspaket für alle.

Hier im Tal stand die Luft still. Die Sonne brannte und Zermatt sah aus wie ein Spielzeugdorf. Überall flache Satteldächer mit Holzschindeln gedeckt. Überall Balkone mit Geranien. Und überall Touristen. Nur er rettet, dachte Ana und sah zum Berg hinauf. Eine weiße Schneekappe trug er und zwei Zacken hatte er, die in den blauen Himmel stachen.

"Wolkenlos", rief Frederike und machte ein Foto vom Matterhorn.

Sie wollten hinauf. Legten alles Geld zusammen, das sie noch hatten, denn die Gondelfahrt war teuer. Frederike rechnete. "Bis zum Schwarzsee können wir es uns leisten", sagte sie.

Ana war alles recht. Sie wäre auch hier unten geblieben. Aber Frederike liebte die Berge. Und schließlich, dachte Ana, hab ich sonst keine Ferien dieses Jahr. Nur liebste, beste Rike sehen. Ana seufzte.

Andreas brüllte, sie sollten sich beeilen.

"Wieso ist der eigentlich immer so hektisch?", fragte Ana.

In der ersten Gondel saßen sie nur zu viert. Kalle teilte seine Schokolade. Sie saßen da, schaukelten durch das Gebirge und leckten sich Sahne-Vollmilch von den Fingern. Waren sehr laut und sehr gut gelaunt. In der zweiten Gondel mussten sie stehen. Die dritte mussten sie teilen. Sie waren aber immer noch ziemlich laut.

Wurden erst ruhiger, als sie die letzte Station erreichten. Schwarzsee. Schwarzer Tümpel. Schwarzes Loch. Dahinter stand er. Sie waren seinem Eis so nahe, dass sie froren. Ana zog über ihr Sommerkleid einen dicken Zopfpulli, stand eine Weile, fror immer noch, und stieg in die Kniehose.

"Etagenlook", sagte sie zu Kalle, der zusah, "total modern."

"Das hat der Berg noch nicht gesehen", meinte Kalle, "er wird sich freuen."

Frederike war in ihren Wanderschuhen schon ein Stück weiter gestiefelt, montierte ein anderes Objektiv vor ihre Kamera. Andreas bewarf den Schwarzsee mit Steinen, die sich weigerten mehrmals aufzutitschen. Kalle spielte mit, Ana folgte Frederike.

Eine Weile standen sie schweigend. Viel seltsam kurzes Moos wuchs hier, drahtig und stark. Dazwischen tatsächlich ein paar Gänseblümchen und Männertreu. Eine Wolke hielt das Matterhorn eng umarmt. Eine einzige weiße Wolke an einem blauen Himmel. Ana kicherte. Frederike sah sie verständnislos an, beobachtete dann weiter die Bergspitze, die Kamera fest in den Händen. Ana setzte sich und pflückte ein Männertreu.

"Die habe ich am liebsten", Frederike drehte das Pflänzchen mit den kleinen zarten Blaublüten zwischen den Fingern, "und sie vermehren sich von selbst."

Ana staunte. Was Rike nicht alles wusste. "Kann man sie sähen?"

"Weiß nicht", Frederike kriegte immer diese Falte zwischen den Brauen, wenn sie nachdachte, "aber wir werden später einen ganzen Garten voll haben."

"Aber wenn unsere Ziegen sie fressen", wandte Ana ein.

"Dann brauchen wir doch eine Weide", bestimme Frederike.

"Die bauen unsere Männer."

"Oder wir."

"Wir?"

"Klar. Wir können das auch."

Kreischen näherte sich vom Ufer her. Jan und Tom spielten die Entdeckung Amerikas. Mochten Kolumbus aber nicht leiden, weil er so gemein zu den Indianern war.

"Nie spielt ihr mit uns", beschwerten sie sich.

"Doch", erklärte Ana, "wir spielen, dass wir das Dach reparieren. Kolumbus' Kanonen haben es zerstört."

"Wir brauchen kein Dach", behauptete Tom, "es regnet nicht!"

"Doch wir brauchen bestimmt eins", Jan glaubte immer alles, "oder Ricki?"

Frederike flocht Gräser durch nebeneinandergenagelte Äste. In totes Holz darf man hämmern, hatte Ana sich beruhigt und zugeschlagen, weil Frederike es so wollte.

"Sicher brauchen wir ein Dach", sagte Frederike, "was machen wir, wenn es doch regnet?"

"Aber wir haben keine Gräser mehr", Ana folgte einer plötzlichen Eingebung, "ihr müsst mit den Indianern handeln und Nachschub besorgen."

"Und dann schließt ihr mit ihnen Blutsbrüderschaft,..."

"und verjagt Kolumbus, damit er das Dach nicht wieder zerstört."

"Dann können wir auch mit auch gehen und müssen nicht hier bleiben", schloss Frederike. Ana sah sie zufrieden an. Ohne sich abgesprochen zu haben, ohne einen Blick zu wechseln, funktionierte sie in ihrem Zusammenspiel. Sie dachten sich eine Mission für ihre Brüder aus, weil sie einfach wussten, dass sie lieber alleine zu zweit, ihre Hütte zu Ende bauen wollten. Zusammensein ist am schönsten, dachte Ana.

"Frederike?"

"Hm?" Frederike sah konzentriert durch den Sucher.

"Geht's dir gut?"

Frederike ließ die Kamera ein Stück sinken, hob sie dann wieder. Die Wolke hatte den Berg fast vollständig freigegeben. "Klar. Wieso?"

"Ich weiß nicht", Ana zerrupfte ganz langsam die kleine Blaublume. Sie hörte den Auslöser klicken, so leise war es hier oben. Die Wolke wanderte weiter, das Matterhorn strahlte unbekümmert.

"Was weißt du nicht?" Frederike drehte sich lächelnd um.

Ana zuckte die Schultern. Traute sich nicht zu fragen, ob Frederike sich über ihren Besuch auch wirklich freute. "Gar nichts", sagte sie stattdessen, hatte vielleicht auch Angst vor einer ehrlichen Antwort "gar nichts weiß ich."

Frederike starrte ihr einen Augenblick ins Gesicht. Und da ist die kleine Falte, dachte Ana. Dann sah Frederike über sie hinweg. Lachte und winkte. "Wir sollen kommen, sie sind höher gestiegen", und stiefelte davon.

Ana ließ das zerpflückte Blümchen fallen und blieb, wo sie war.

Weiter oben würde es noch kälter werden.

Ana fror. Sie hatte sich über die Bootswand gehängt, um den fast verlorengegangenen Baum zu retten. Dabei hatte sie eine Welle erwischt, war über sie hinweggespült. Ich tropfe, dachte Ana. Es regnete jetzt stärker. Der Condor trieb immer weiter auf den Genfer See hinaus.

Frederike saß völlig aufgelöst am Ruder. War nicht nur durchnässt. "Nein, nein, nein", sagte sie ständig, lenkte nach Steuerbord, nach Backbord, das Segel flatterte, hing im Weg, sie kippten und schwankten, bis Ana es einfach herunterholte.

Jetzt saßen sie bewegungslos und stumm, nur das Boot trieb für sich hin. Immer weiter weg von ihrem Landungssteg. Der Baum war kurz vor der entscheidenden Wende heruntergefallen, die sie wieder auf Heimatkurs hätte bringen sollen.

Ich hätte diesem seltsamen Knoten doch nicht vertrauen sollen, dachte Ana.

"Scheiße, Scheiße", jammerte Frederike, "und es ging doch so gut."

"Wir können ja nichts dafür", Ana ahnte, dass Frederike sich so schlecht fühlte und Ärger fürchtete, weil sie zum ersten Mal alleine mit einem größeren Boot fuhr, ohne jemanden mit Erfahrung dabei zu haben. Das mit dem ersten Mal hatte sie bei der Ausleihe natürlich verschwiegen.

"Was machen wir denn jetzt?" Frederike hatte wirklich Panik in der Stimme. Ana war erstaunt über diesen ungewöhnlichen Gefühlsausbruch. War selbst völlig ruhig, wir sind auf einem See, dachte sie, wenn auch auf einem großen. Was soll uns denn auf dem See schon passieren? Überall Ufer. Überall andere Boote. Wenn auch leider zu weit entfernt im Moment. Missmutig starrte sie zu Andreas und dem Katamaran hinüber.

Das Notfallpaddel hatte Frederike aus dem Boot geräumt, es erschien ihr unnötig. Eigentlich lustig, überlegte Ana.

"Wir versuchen es nur mit der Fock", schlug sie vor, "okay?"

Frederike sah sie hoffnungsvoll an. "Und du meinst das geht?"

"Klar, Laser haben auch nur ein Segel."

Es ging nicht. Ob es prinzipiell nicht möglich war oder nur ihnen nicht gelang, es ging einfach nicht. Der Condor weigerte sich, zu wenden und nach Hause zu fliegen.

Frederike verzweifelte, wurde richtig hysterisch, riss die Pinne hin und her. Ana saß da und sah ihr zu. Früher war es immer anders, dachte sie. Frederike wusste immer, was zu tun war. Wir waren immer so beschützt und sicher, wenn sie dabei war. Oder, Ana starrte auf ihre nassen Turnschuhe, vielleicht habe auch nur ich mich so gefühlt. Und vielleicht, Ana starrte noch intensiver, vielleicht habe ich auch immer nur gedacht, sie würde alles wissen. Denn so wie jetzt, Frederike den Tränen nahe, hatte sie ihre Rike noch nie gesehen.

Auch nicht, als Frederikes Vater starb. Sie sahen sich erst ein Jahr danach wieder. Und Rike war Frederike, hatte nie mehr dasselbe Lächeln im Gesicht, erzählte nichts, hatte die Leitung gekappt, die Verbindung unterbrochen. Nicht aufgeben, Ana, hatte Ana gedacht.

"Bleib ganz ruhig", sagte Ana, "Rike, hörst du? Wir sitzten einfach ein bisschen hier und lassen uns nassregnen, bis jemand bemerkt, dass wir ein Problem haben. Hörst du?"

Frederike hörte tatsächlich auf, die Pinne zu malträtieren.

"Klar, bei Sonne wär's einfacher", redete Ana weiter, "aber dafür ist es ja sehr abenteuerlich. Wer wird sich nicht kaputtlachen, wenn wir das wieder erzählen? Zu blöd, um einen Knoten festzuzurren."

Frederike lächelte. "Ich werde Andreas umbringen", sagte sie sie.

"Nein, auf einem See aussetzen", Ana lachte.

Saßen da und lächelten sich an, als der graue Regenschleier aufzureißen schien und einen Kahn mit Galionsfigur freigab. Ein alter Mann in gelbem Ölzeug stand da, aufrecht.

"Der Fischer vom Bodensee", flüsterte Ana.

Aber Frederike war zu erleichtert, um zu lachen. Sie rief dem Mann auf französisch etwas zu. Ja, Ana hatte Recht gehabt, sie waren nicht unbemerkt geblieben. Der Alte nahm sie in Schlepptau und als der Condor auf Grund aufsetzte, brach die Sonne durch die graue Wolkendecke.

Frederike war auf Andreas zugestürzt, nur noch ein bisschen wütend, die Angst war vergessen gewesen, kaum dass der Engel im Ölzeug erschien. Sie zog Andreas am Ohr, der lachte verlegen und war bestürzt. Kalle kam, um nach Ana zu sehen.

Ana sah zu, wie Frederike davonging. Ohne sich nach Ana umzudrehen. Kalle guckte ihr ins Gesicht.

Nachher wird sie sich wieder an mich erinnern, dachte Ana, vielleicht wenn wir die Neoprenanzüge auswaschen. Oder wenn wir im Auto sitzten. Dann wird sie wieder dasselbe Lächeln lächeln wie ich. Und dann werde ich denken, nicht aufgeben, und sagen: "Wie früher."