"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

Zu später Stunde

von: André Kamphaus

In der Nacht rief man mich an.

"Deine Mutter!"

Ich verspürte keinen wirklichen Drang aufzustehen und nach ihr zu sehen. Mir gefiel es hier. Aber etwas Unverdautes wurde aufgeschwemmt und trieb mich doch aus den Federn. Es muss schnell gehen, hatte Robert, ihr Pfleger, am Telefon gesagt. Ohne mich zu waschen, zog ich mich an und hastete das Treppenhaus hinunter zur Straße. Die klirrende Kälte einer sternenklaren Nacht warf sich mir entgegen. Meine Schritte hallten ziellos durch die schlafenden Gassen. Auch im Wagen war es kalt und auf den Scheiben hockte silbrig glänzender Frost, der wie ein Schleier vor meinen Augen hing. Ich fuhr über tote Straßen den Weg nach Klostereichen. Als ich die Tore des Altenheimes endlich erreichte, stand Robert schon ungeduldig und durchfroren am Straßenrand und pustete in seine Hände. Auch er hatte sich nicht gewaschen. Seine Augen waren schlitzig und verklebt. Ich stieg aus und fühlte eine schwere Müdigkeit in mir. Das Unverdaute hatte sich wieder in die tiefsten Gefilde meiner Selbst zurückgezogen. Noch wollte mich mein Körper halten und drängte ins Bett. Ich stellte mir vor, wie wunderbar warm es unter meiner Decke war.

"Der Nachtwache ist aufgefallen, dass ihre Tür offen stand. Der Haupteingang war abgeschlossen. Sie muss also hinten rausgelaufen sein, durch den Garten in den Wald."

Roberts Stimme drang wie aus weiter Ferne kaum zu mir vor. Nachts sind alle Wege lang. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich sie verstanden hatte. Erst jetzt bemerkte ich den Mond, der leichenblass zur Erde blickte.

"Sie ist uns entwischt.", sagte Robert mit missfallend hartem Ton, als ob ihn mein Verhalten ärgerte. "Sie ist in den Wald gelaufen!", wiederholte er sich laut.

"Ja.", sagte ich. Jetzt war es greifbar. Mutter war fort. Ich wunderte mich ein wenig über ihren Mut. Vor mir ragte das Altenheim wie eine Festung empor, und ich fragte mich wieder, warum ich hier stand.

"Was ist?", fragte er mit hektischer Stimme. Er hustete stark. Wenn man müde ist, fiel mir auf, ist alles lauter als sonst. Sein unruhiges Verhalten irritierte mich. Ich fragte ihn, was wir tun sollen. Sie suchen, meinte er, und sofort drängte er zum Wagen, und wir fuhren los.

In meinem Kopf malten sich unweigerlich Bilder von Mutter. Seit fünf Jahren lebte sie nun im Heim, seit Vaters Tod. Damals war sie siebzig, als ihr Körper zerfiel. Für mich war es eine Frage der Zeit, was nicht erlogen war, aber ebenso eine Frage der Bereitschaft, über die ich mit niemandem sprach. Also brachte ich sie ins Heim.

"Sie wird sich bei uns wohl fühlen.", hatte Robert, mit dem ich mich damals noch siezte, mit froher Stimme geträllert, und er trällerte auch dann noch professionell weiter, als er Mutter, die ihm stumm weinend folgte, über den weißen Flur auf ihr Zimmer brachte.

Sie baue stark ab, sagte man mir nach drei Jahren. Sie meinten, jetzt könne ich mir sicher sein, dass es das Richtige war, sie hierher zu bringen. Ein Jahr später wurde ich ihr Vormund, und ihre Unterschrift galt fortan nichts. So raubte mir auch noch der Schriftkram von meiner knappen Zeit.

Seit Weihnachten, diesem elendigen Fest, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Nun war Anfang März. Ich sah keinen Sinn mehr in einem Besuch. Sie saß ja doch nur leidgetränkt da, schaute verloren an die Wände, und das Einzige, worüber wir sprachen, waren Alltagsfloskeln ohne Wert oder abgekaute Erinnerungen an Vater, an früher, immer dasselbe. Ich wollte es nicht mehr hören. Ihr Gedächtnis hatte stark gelitten, blutete aus wie eine flächige Wunde, und was ich ihr sagte, tropfte sogleich aus dem eitrigen Loch hervor und zerfloss auf ihrem Schoß. Nur diese beschönigten Bilder aus einer damaligen Welt hatten sich fest in ihr abgelagert. Wie ich diese Besuche hasste! Nachher fand ich nur schwer in mein Leben zurück. Meistens traf ich mich mit Freunden und spülte die Stimmung weg. Wenn ich mich dann morgens kathartisch übergab, war ich wieder genügend mit mir selbst beschäftigt und musste nicht mehr an sie denken.

Am meisten jedoch hasste ich es, wenn sie vom Sterben sprach. Kein Vorwurf, dass ich sie ins Heim gebracht hatte, kam über ihre Lippen, und ich hasste schon immer ihre Unaufrichtigkeit. Aber diesen Wunsch dürfe ich ihr nicht abschlagen, sagte sie. Ihr Blick suchte mich während dieser Worte, als wäre ich ihr etwas schuldig. Das gefiel mir nicht.

"Ich gehe hier kaputt.", hatte sie immer wieder gesagt.

Ich hielt an einer Tankstelle, die nahe dem Waldrand hinter Klostereichen lag. Hinter der Kasse hockte ein träger Mann, der in einer Zeitschrift wühlte. Er konnte mir nichts sagen. Ich fuhr weiter Richtung Wald. Hier leuchtete keine Lampe mehr den Weg, mich umgab nur formlose Dunkelheit. Ich rief einige Male in den schwarzen Wald hinein, und viele Stimmen riefen mit immer leiserem Tone zurück, bis mich wieder ein kaltes Schweigen umschloss. Ich stieg in den Wagen. Robert saß stumm und unbeweglich neben mir. Er sah blass aus wie der Mond.

Ich erzählte ihm von den Schlaftabletten, um die mich Mutter bat. Seine müden Augen weiteten sich. Er wirkte seltsam erregt. Endlich sah er zu mir herüber. Natürlich hatte ich ihr keine besorgt.

"Ruf die Polizei!", sagte er aufgeregt, und da kein Telefon in der Nähe war, fuhren wir zurück zur Tankstelle und rissen den mittlerweile eingenickten Mann aus seinem Schlaf. Die Polizei versprach zu kommen, sie wollten das Waldstück absuchen und die umliegenden Straßen und ich sah es vor mir, wie sie die Leiche meiner Mutter fanden und zu mir brachten. Warum zu mir? Das Ganze machte mich plötzlich nervös. Ein Ekel kroch mir über die Haut und drückte mich wie kalter Regen nieder. Ich fühlte mich durch die Kälte ausgebrannt, und nur noch Rauch stieg aus meiner Brust hervor und verfing sich wie ein Gift in meiner Lunge. Wie betäubt hockte ich hinter dem Steuer und dachte an sie, die irgendwo unterwegs war, auf der Suche nach ihrem Tod. Stiche fielen von allen Seiten auf mich herab. Nein, schrie der Wille in mir, und doch drückte es mich noch tiefer in den Sitz.

Ich sah auf einmal Vater vor mir, wie er im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, umschattet von seiner wesenhaften Lethargie, ganz so als ob nichts sei. Wie immer redeten wir nicht viel. Hier wurde nicht geredet. Dann schrie er plötzlich auf, laut und panisch, er zuckte, zuckte am ganzen Leib, seine Hände griffen an seine Brust, er sackte auf die Knie, verstummte sodann, und der Schmerz quoll nur noch dumpf aus seinem angsterfüllten Gesicht hervor, und flehend wie ein Kind starrte er mich an, versuchte mir eine Hand entgegenzustrecken und Mutter kam ins Zimmer, fing an zu schreien, fiel Vater um den Hals, sie schrie und weinte, sie kreischte wie ein kleines Mädchen, und dann sackte Vater ganz in sich zusammen, seine Hände fielen von seiner Brust, sein Blick verschwand nach innen und dann lag er nur noch wie eine Puppe auf Mutters Schoß.

"Aufwachen!", warf sich eine Stimme dazwischen.

Roberts Augen klebten an mir. Die Bilder zogen mich, aber sein Blick hielt mich fest.

"Wo habt ihr gewohnt?", fragte er, und bevor ich gänzlich im sumpfigen Gestern zu versinken drohte, fuhr ich eilig los.

Unser altes Haus lag nicht sehr weit von hier, etwa eine halbe Stunde zu Fuß, und ich hatte es an eine junge Familie vermietet. Im ersten Stock schimmerte ein schwaches Licht. Ein tiefer Stich durchdrang mich, als ich den altvertrauten Ton der Türglocke vernahm. Kurz darauf öffnete mir der Mieter im Morgenrock die Tür. Die Dunkelheit raubte ihm sein Gesicht. Es hätte ebenso gut Vater sein können.

"Haben sie meine Mutter gesehen?", brach es unvermittelt aus mir heraus.

Nichts hatte er bemerkt. Aber sein Gesicht, das im Mantel der Nacht auf der alten Türschwelle erschien, galt mir als Zeichen. Nun wusste ich, wo sie zu finden war. Mein Gefühl wusste es und warnte mich zudem, dass nicht mehr viel Zeit verblieb.

Unterwegs hörte ich in der Nähe die heraneilenden Martinshörner die stille Nacht durchbrechen. Vielleicht waren sie schon dort und hatten sie gefunden. Mit hohem Tempo raste ich über den Asphalt, der an schattigen Stellen bedrohlich glänzte. Der Friedhof lag nicht weit entfernt von Klostereichen, aus guten Gründen, wie mir ein Vorsitzender des Hauses erzählt hatte, und ich stellte mir Mutter vor, wie sie alleine durch die Dunkelheit irrte. Eigentlich war sie ängstlicher Natur, doch was hatte sie noch zu fürchten? Jeder Tod war ihr vermutlich recht, nur nicht zu schnell. Sie wollte nicht, dass der Tod wie ein Blitz auf sie einschlägt und mit sich fortreißt, hatte sie mir erzählt. Was hat es für einen Sinn, seufzte sie, wenn man sich all die Jahre durchs Leben schlägt, und dann von einer Sekunde auf die nächste verschwunden ist. Nicht die Schmerzen fürchte ich, daran habe ich mich im Laufe meines Lebens gewöhnt. Aber einen schnellen Tod, ähnlich wie Vater, womöglich noch schneller, den fürchte ich.

All das schoss mir durch den Kopf, während wir wortlos die lange, dunkle Straße zum Friedhof entlangfuhren, der eingebettet von Wald hinter den äußersten Wohnbezirken der Stadt gelegen war. Wir parkten den Wagen vor dem Haupteingang. Die Polizei war noch nicht hier. Niemand war hier, wie es schien, niemand außer den unzähligen toten Seelen, die unter den schwach flimmernden Grabkerzen in der Erde ruhten. Das Grab meines Vater, erinnerte ich mich, lag im Nordostflügel der Anlage. Es musste viel Zeit vergangen sein, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, und ich hatte selbst bei Licht meine Probleme, die Stelle zu finden. In diesem Moment aber brauchte ich nicht zu denken. Ohne Zögern huschte ich zwischen den Toten hindurch, dicht gefolgt von Robert, und mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem Platze meines Vaters näherte, wurden meine Beine schwerer und mein Atmen tiefer. Dann hörte ich ein schwaches Geräusch. Es kam aus der Richtung, in die es mich zog, und ich blieb stehen, um horchen zu können. Robert umfasste meinen Arm, als auch er die leise Stimme einer Frau vernahm. Ich wollte loslaufen und zu ihr gehen, aber Robert hielt mich fest. Für einen Moment war es still. Eine Eule hatte uns entdeckt und warnte die anderen Kreaturen. Dann drang wieder Mutters Stimme zu uns vor, und ich verstand sie immer klarer, je länger ich mir Zeit nahm, ihren Worten zu lauschen. Hatte ich sie je so gut verstanden? Sie schien nicht zu weinen oder außer sich zu sein, eher klang es lustig als traurig, fast nach einem Lachen, und dann sagte sie mit lauter Stimme:

"Diese Nacht muss heilig sein."

Langsam trat ich an sie heran. Robert blieb einige Meter hinter mir zurück. Nach und nach konnte ich ihre Konturen erkennen, ihr alt gewordenes Gesicht, ihren gekrümmten Rücken. Sie kniete in der Mitte des Grabes und streichelte mit sanften Bewegungen über die knochig harte Erde. Sie hatte mich noch nicht bemerkt.

Dann drehte sie sich ruhig zu mir um. Sie erschreckte sich nicht, sondern ihre Augen, die ich jetzt im Mondlicht leuchten sah, glänzten vor Glückseligkeit. Sie erinnerten mich an den unbekümmerten Blick eines Kindes, das sich in Sicherheit weiß.

Ohne dass sie sich sträubte, nahm ich sie an die Hand und ging mit ihr und Robert zurück zum Wagen. Wir schwiegen. Ich bat Robert, den Wagen zu fahren und setzte mich mit Mutter auf die Rückbank. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lassen, so anders sah sie aus. Sie wirkte müde und es fiel ihr schwer, ihre Augen aufzuhalten, und trotzdem schimmerte ein feines Lächeln auf ihrem Gesicht. Ihre Augen leuchteten hell und klar, strahlender als ich sie jemals gesehen hatte. Dann zwinkerte sie ein letztes Mal und schlief noch ein, bevor wir Klostereichen erreichten. Über dem Haus trat allmählich die Morgenröte hervor und verschluckte die letzten Sterne. Robert schaltete den Motor ab, und wir stiegen aus. Ein paar ungeahnt wichtige Minuten holten wir tief Luft. Nun genoss ich die klirrende Kälte und kühlte mein erhitztes Gemüt.

"Es ist besser, wenn wir sie wecken.", sagte Robert, und ich nickte zustimmend. Ich öffnete die Tür und bückte mich hinunter. Ich schaute noch mal in dieses friedlich schlafende Gesicht, das mich irgendwo berührte. Dann fasste ich ihr an ihre Schulter und rüttelte sie leicht. Sie schlief tief und fest. Ich rüttelte etwas fester. Aber nichts geschah. "Mutter!", rief ich ihr zu und rüttelte noch etwas fester, aber immer noch regte sie sich nicht. Robert fasste ihr an den Hals, er rührte sich einen Moment lang nicht. Ich sah ihn glanzlos an, und er nickte nur still. Ich setzte mich neben sie, zog sie vorsichtig an mich und drückte ihren kleinen, fremden Körper zum Abschied an meine Brust. Als ich wieder ausstieg und sie behutsam auf die Rückbank legte, fiel mein Blick auf eine Schachtel Tabletten, die aus ihrer Tasche gefallen war. Nun brach ein erster Sonnenstrahl die Nacht.