"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

Wohin gehst Du

von: Charlotte Inden

Die Magnolienbäume trugen Knospen und Schnee, als Lila verschwand. Niemand fand den Brief, die Sonne ging weiter auf und unter. Der Schnee war fortgetaut, die Knospen gesprungen bis Lilas Verschwinden auffiel.

Es gab keine Schokostreusel mehr auf der heißen Schokolade. Keine Streusel mehr, seitdem Lila fort war. Wer braucht schon Schokostreusel, lachten die anderen. Und wer trinkt heiße Schokolade im Sommer? Martin verzichtete also. Wartete auf den Sommer. Merkte nicht, dass ihm die Streusel überall fehlten, beim Morgenkaffee, beim Mittagslachen, beim Abendweinen. Er erfuhr Lilas Namen erst, als sie schon fort war. Sie war einfach das Mädchen hinter der Theke gewesen.

Einmal hatte er sie gesehen. Das war kurz vor Weihnachten. Sie ging mit der Menge und niemand schien sie zu bemerken. Schnee fiel und machte Lila vielleicht noch blasser. Mit den Händen in den Taschen hielt sie sich an sich selber fest.

Er wusste nicht, warum er sie sah. Aber ihr Gesicht sah aus, als hätte er es tragen können.

Auf den Sommer konnte er dann nicht warten. Packte seine Sachen, bevor es heiß wurde. Hinterließ nichts. Und dachte kurz an sie.

Er stieg aus, um Kaffee zu holen. Jeder fremde Bahnhof wie eine fremde Welt. Während Martin wartete, dann zahlte, schaute er den anderen Reisenden zu, denen, die wissen, wohin sie wollen. Er lächelte, man sah ihm nicht an, dass er anders war. Mit dem Kaffee in der Hand kehrte er zu seinem Abteil zurück.

Sie wird gedacht haben, ich muss nur schnell genug sein, fiel ihm ein. Wenn ich schnell genug bin, kann ich die Erinnerungsschatten hinter mir lassen. Kann ihnen die Zunge herausstrecken, beobachten, wie sie kleiner werden und beten, dass sie lahme Füße kriegen.

Martin kann die Fensterplätze nicht leiden, saß am Gang. Konnte nicht sehen, ob die Schatten schon abgehängt waren oder noch verbissen weiterhinkten. Die Nasen am Boden. Aber nur für den Fall winkte er einmal freundlich.

 

Er war schon lange hoch im Norden, als er es in der Zeitung fand. Erst habe man noch gespaßt: Russenmafia oder Mädchenhändler. Doch da das Leben müde mache, beschlossen sie, den Fluss absuchen zu lassen. Diesmal war es laut gewesen um Lila. Auf dem Grund fanden sich nur Dreck und Schlick. Und ein paar erschreckte Fische. Auf den Fotos sah sie sich nicht ähnlich. Auch die Fische hatten sie nicht gesehen. Die guckten empört und schwammen weiter. Dann lagen die Wasser wieder glatt.

Wie weit muss man fliehen, um zu entkommen? Martin liegt im Sand, die Hände im Nacken, die Augen geschlossen. Die Sonne kann er trotzdem sehen. Ob sie es ihnen nicht hätten sagen sollen? Lila hatte nein gesagt. Lila liegt neben ihm. Sagt wieder nein, schüttelt den Kopf, dass es Sandkörner regnet. Sie lacht, als er niest.

Einmal hatte sie von diesem Ort gesprochen. Jemand fragte, wo man denn heute noch hinfahren könnte im eigenen Land? Wo noch Friede sei? Und nicht nur Tourismus. Lila gab Geld zurück und Martin fand die Fragen seltsam. Er kam an die Reihe, sie sagte es vor sich hin. Es war der Name. Dort wäre der Himmel noch seelenblau. Und Sterne fielen jede Nacht. Was sie sich gewünscht habe, wollte er fragen. Aber sie sah schon wieder auf ihre Schokostreusel.

Obwohl er sie nicht gesucht hatte, fand er sie erst nach einer Woche. Stiefelte barfuß den Strand entlang, ging schräg am Hang, hielt den Blick nach unten gerichtet, um sich die Sohlen nicht an Muscheln aufzuschneiden.

Sah hoch, als Möwen kreischten. Sie stand bis zu den Knien im Wasser, gehörte dem Wind.

Er wartete, bis sie sich umdrehte.

Ihr Blick war tatsächlich wolkenlos.

Lila war blass. War wunderschön, im Sommer glänzte ihre Haut dunkel. Aber Lila war wie ohne Farbe. War einfach da, ohne da zu sein. Sprach, lachte, bewegte sich hinter einem Vorhang. Martin hatte sie bestimmt schon vorher oft gesehen, aber an jenem Abend sah er sie zum ersten Mal, ohne sie direkt wieder zu vergessen. An jenem Abend hatte Lila einen ihrer strahlenden Momente.

Der Vorhang öffnete sich und Lila trat auf. Sprühte Funken bei jedem Schritt und jedem Wort. Hatte Glut im Haar und Feuer im Blick. Und einen großen Fremden am Arm. Lachte ohne Falsch.

Martin wollte das Lachen wieder hören.

Was hältst du von dem Großen, fragte er eine Freundin. Ich stell dich vor.

So saßen sie bald zu viert unter Lampions und Sternen. Der Große redete nicht viel, aber die Frauen strahlten in der Nacht. Martin schenkte nach.

Als der Himmel sich an den Rändern hell zu färben begann, sagte Lila zu Martin: "Findest du meinen Bruder nicht auch wundervoll?"

Sie kannte ihn nicht mehr. Sah wohl selbst wie durch Wasser. Er wartete bis sie ihm zum dritten Mal begegnete, dann sprach er sie an. Das war vor der Sturmwarnung.

Ihre Großmutter habe es auch getan. Sei aufgebrochen, obwohl Bomben fielen. Hatte den Brief in der Hand. Saß auf der Treppe vor ihrem Elternhaus, konnte nicht hinein, keiner war da. Saß auf der Treppe und weinte ein Stückchen. Wusste nicht, ob Mutter und Schwester noch lebten. Nur, dass der Vater gefallen war. Und war trotzdem aufgebrochen.

Das war etwas anderes, sagte Martin.

Lila glaubte das nicht. "Sie hat auch sich selbst gesucht", behauptete sie.

"Sie ist geflohen", sagte er.

Zuerst gingen sie nur gemeinsam das Meer ab. Ließen die Beine von den Wellen umspülen. Oder sahen im Watt den Möwen zu, wie sie Miesmuscheln auf Steinen aufschlagen ließen, aus höchster Höhe, weil sie sehr hungrig waren.

"Sieht aus wie ein Mosaik", sagte Lila und befühlte die gesprungenen Schalen. Es schimmerte schwarz und violett.

Martin stand abseits, hatte Angst um seine Fußsohlen. Das Watt gefiel ihm nicht, es war so still. Er hörte lieber der Brandung zu.

Lila hatte eine innige Liebe zu den Möwen erfasst.

"Sie sind so einsam", sagte sie.

"Sie sind zu Tausenden", sagte er, blickte in den dunklen Himmel, sah die lärmenden weißen Silhouetten. Das gilt nicht, dachte er, schreien gilt nicht.

Bevor die Wolken brachen, gingen sie zu ihr. Folgten den Holzstegen bis zu dem Reetdach am Ende des Dorfes. Und froren dann tatsächlich mitten im Hochsommer, als draußen Wasser niedergingen.

Liebste,

bin inhaftiert und weiß nicht warum. Werden nach Süden transportiert, im Osten stehen die Amerikaner. Lass sie schneller sein als wir. Bete, Dich wiederzusehen. Hoffe, diese Zeilen erreichen Dich.

Dein Bruder

Der Große zündete ein Feuer an. Mitten im Hochsommer. Aber als die Flammen über die Scheite leckten, Lilas Gesicht heiß und Martin warm wurde, mochte er Lilas Bruder zum ersten Mal.

Die beiden saßen nebeneinander und Martin war sich nicht sicher, ob Lilas Wangen wegen des Feuers so rot waren. Vielleicht, dachte er, ist es auch egal, warum. Jedenfalls ist sie aufgetaucht.

"Warum sind Sie hier?" fragte Lilas Bruder.

Verloren die Flammen an Kraft? Lila wandte Martin das Gesicht zu.

"Er besucht jemanden", sagte sie, "wie ich."

Erzähl es noch mal, bat er sie.

"Wegen Zersetzung der Reichswehr."

"Das war der Grund?"

"Ja."

"Was hatte er denn getan?"

"Gesagt, der Krieg sei verloren, es lohne sich nicht, dafür zu sterben."

"Und was war die Strafe?"

"Tod durch Erhängen."

Lila hatte ihm die Geschichte ihres Großonkels hundertmal erzählt.

"Sie hat versucht, ihren Bruder zu retten."

Und wer rettet dich? denkt Martin.

Die Sonne beschließt, im Meer ein Bad zu nehmen. Lila sitzt, das Kinn auf die Knie gestützt, bloße Arme umarmen bloße Beine. Sie sieht glücklich aus. Braun. Martin ist kalt. Er zieht sich den Pullover über die Handgelenke so weit es geht. Lila lächelt.

"Komm her", sagt sie und sie sitzen ineinander geschmiegt, während es sachte eindunkelt.

Martin hat gar nichts gesagt, trotzdem erklärt sie: "Er hat nur mich." Im Haus auf den Dünen wartet ihr Bruder.

Nur ein Brief, denkt Martin. Ein Brief von mir und nichts würde geschehen. Von niemandem.

Wie weit muss man fliehen, um anzukommen? Wo muss man die Erinnerungsschatten verloren und begraben haben, damit man Ruhe findet?

"Du weißt es doch", wirft er ihr vor.

Lila schaut ihn mit stummen Augen an. Du weißt es, denkt er. Wüsstest du es nicht, dann hättest du es ihnen gesagt. Dann hätten sie nicht tauchen und nur Fische finden müssen.

Er dachte: Erkennen, dass es Flucht ist, ist die Ankunft.

"Ich werde bald abreisen müssen."

Sie laufen über das Priel nach Hause. Sind hungrig, freuen sich auf die gepuhlten Krabben und das Weißbrot. Es platscht so schön, wenn Lila ins Wasser tritt.

"Damit sie nicht nochmal den Fluss absuchen."

"Du kannst ja einen Brief schreiben."

Wem, denkt Martin.

"Egal wem", sagt Lila.