"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

Regenzeit

von: Jens Holger Fink

Ich sitze an meinem Schreibtisch, um eine Geschichte zu erzählen, die wohl keiner anderen Person so vertraut ist wie mir.

Die Ereignisse, die auf den folgenden Seiten beschrieben werden, scheinen vielleicht weit entfernt und in der Welt, die Sie kennen, ohne Belang. Doch da irren Sie sich.

Nur weil Sie selbst noch nichts dergleichen erlebt haben, bedeutet das keineswegs, dass es nicht jederzeit in Ihrem Ort, in Ihrer Straße oder sogar in Ihrem Heim geschehen kann.

Also versperren Sie nicht die Augen vor dem, was durchaus möglich ist.

*

Die Geschichte begann in einer warmen Sommernacht.

Ein streunender Hund überquerte die Straße. Den Kopf hielt er tief zwischen seinen Schultern, als die Stille von näher kommenden Motorengeräuschen durchdrungen wurde. Scheinwerfer zerschnitten die Schatten auf der nahe gelegenen Kreuzung. Im nächsten Moment schoss ein Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke.

Der Hund hastete auf den Bürgersteig, hinein in einen rettenden Hinterhof. Mülltonnen fielen zu Boden.

Mit dem einfallenden Licht konnte man durch das Fenster eines Einfamilienhauses für einen Sekundenbruchteil die Silhouette eines Mannes erkennen. Doch schon im nächsten Moment war alles wieder in Dunkelheit gehüllt.

Niemand schien ihn beachtet zu haben.

Dunkle Wolken schoben sich währenddessen über die Stadt und versprachen nichts Gutes.

Vereinzelte Tropfen fielen vom Himmel und hinterließen feine Wasserspuren auf den Fenstern der Häuser.

Es begann zu regnen.

*

Den Blick starr auf die Tür gerichtet, saß er im dunklen Zimmer.

Der Regen wurde immer stärker, wodurch das ganze Haus in das Tosen der niederprasselnden Wassermassen eingehüllt wurde.

Immer dunklere Wolkenmassen schoben sich unablässig näher. Nicht mehr lange und es würde wohl niemand bemerken, wenn man durch ein geöffnetes Fenster lauthals um Hilfe ruft - vorausgesetzt, jemand hätte so etwas vor.

Die dunkle Gestalt, die sich bewegungslos im Wohnzimmersessel befand, sicherlich nicht.

Sie wartete nur.

*

An einem Ort, gar nicht so weit entfernt, war eine Geburtstagsfeier auf ihrem Höhepunkt.

Die Anlage war überlastet und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Boxen völlig ihren Geist aufgaben.

Die Nachbarn bereuten es schon seit mehreren Stunden, dass sie sich mit einer drittklassigen Flasche Wein und einem künstlichen Lächeln breitschlagen ließen und beteuerten, keine Einwände gegen die Party zu haben: Man wird immerhin nur einmal 18, und da kann man schon mal ein Auge zudrücken.

Aber wer konnte schon ahnen, dass die `kleine Feier` zu solch einem Fiasko ausarten sollte.

Mit dem Einsetzen des Regens wurde die Lautstärke ein wenig gedämpft, aber nicht wesentlich.

*

Es mussten inzwischen wohl zwei Stunden gewesen sein, die er, ohne einen Muskel zu bewegen, dasaß.

Der niederfallende Regen, den er zu Anfang noch als ein einheitliches Geräusch wahrgenommen hatte, ließ nun mehrere verschiedene Nuancen erkennen.

Bisher konnte er drei verschiedene ausmachen: Zunächst den Regen, der gegen die Fenster trommelte. Aber das war ja keine Kunst, denn eben dieses Geräusch übertönte anfangs noch all die anderen, die nun zu hören waren.

Ganz deutlich konnte man auch das hohle Echo des Regens hören, der auf das Dach prasselte und durch das Haus schallte.

Wie konnte er das nur so lange Zeit überhört haben.

Einen kurzen Moment war er wütend auf sich, hätte vielleicht sogar die Kontrolle über die Lage verloren. Aber im letzten Moment konnte er sich wieder fangen und dachte an die Erfolge, die er feiern durfte.

Denn das nächste Geräusch, das er erst vor kurzem ausmachen konnte, verlangte schon ein besonders gutes Gehör. Und das hatte er selbstverständlich.

*

Dass Jakobs Eltern an seinem 18. Geburtstag 2000 Kilometer entfernt Urlaub machen sollten, war für ihn zunächst ein Schock.

Doch mit dem Beginn seiner Vorbereitungen breitete sich immer mehr das Gefühl in ihm aus, dass es doch eigentlich ein Segen war.

Seine Gäste schienen sich trotz des einsetzenden Regens wirklich köstlich zu amüsieren.

Vor einiger Zeit kam ein Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke geschossen, und er war sich sicher, im nächsten Moment seine Eltern auf ihn zustürmen zu sehen, die ihn an seinem Geburtstag auf sein Zimmer und den Rest zum Teufel jagen würden.

Aber der Wagen fuhr weiter und die Party konnte weitergehen.

 

*

So viel Zeit er dafür aufbrachte, das Geräusch zu isolieren, so lange benötigte er mindestens auch, um es genau zu bestimmen.

Es war ein leises Tröpfeln hinter dem großen Rauschen. Es schien viel näher zu sein, aber dennoch so unendlich leise.

Die Unregelmäßigkeit, in der es auftrat, erschwerte noch zusätzlich die genaue Bestimmung. Des Öfteren schien es greifbar nah, doch im nächsten Moment war es wieder verloren.

Doch plötzlich wurde es glasklar! Natürlich! Eine schwache Ahnung hatte sich schon länger in ihm entwickelt. Jetzt brach sie aus seinem Innersten hervor und kam an die Oberfläche:

Es musste sich um das eingeschlagene Fenster in der Küche handeln, durch das Regenwasser hindurchrann! Eine Pfütze hatte sich gebildet, in die unablässig das Wasser tröpfelte.

Was für ein unglaubliches Gehör! Das musste man ihm lassen.

*

Seitdem er seinen besten Freund mit der kleinen Schwester in der Toilette erwischt hatte, konnte ihm nur noch mehr Alkohol darüber hinweghelfen.

Eigentlich hatte er schon vorher genug, aber es schien zu wirken: Die Schwester war schon bald vergessen. Sollte sie doch selber schauen, wie sie zurechtkam. Sie wollte ja sowieso bei einer Freundin übernachten.

In welcher Beziehung der Alkohol den gegenteiligen Effekt hatte, musste Jakob schmerzhaft erfahren.

Sie hieß Rachel, war eine Klasse unter ihm und hatte lange braune Haare. Man konnte ihn sicherlich nicht als schüchtern bezeichnen, doch jedes Mal, wenn er sie in der Pause sah, wurden seine Hände feucht, ein seltsames Gefühl in der Magengegend machte sich breit und seine Freunde um ihn herum waren vergessen.

Schrecklich stolz auf sich, sie überhaupt eingeladen zu haben, wollte Jakob ihr nun zeigen, was er für sie empfand. Mit dem Gefühl, nichts verlieren zu können, ging er auf sie zu und presste seine Lippen fest gegen die ihren. Der anfängliche Genuss ging sehr schnell in einen sehr starken Schmerz in der Unterleibsgegend über.

*

Zu Beginn war es ein Gefühl, als ob der Regen, der aus dem Haus ausgeschlossen war, seine Hand herunterlief. Doch trocknete das Blut viel zu schnell, als dass er es für längere Zeit genießen konnte.

Mit dem Mann hatte er kurzen Prozess gemacht, doch die Frau hatte ihm, trotz ihres Alters, überraschend viel Probleme bereitet.

Aber wenn man berücksichtigt, dass er erst ein Anfänger war, also noch in der Lernphase, konnte man ihm diesen Irrtum schnell verzeihen.

Immerhin hatte er was er wollte: Die genaue Uhrzeit, zu der er sein nächstes Opfer erwarten durfte.

Die Wohnzimmeruhr schlug 1 Uhr. Noch zwei Stunden, doch er war jetzt schon schrecklich aufgeregt.

*

Es war inzwischen zwei Uhr und bald musste Jakob die Party auch beenden.

Zu Anfang hoffte er noch, dass die ganzen Leute langsam von alleine gingen, doch da hatte er sich wohl geirrt.

Nachdem er mehrere Anrufe von den Nachbarn erhalten hatte, anscheinend war der Wein nicht so gut gewesen, erkannte er, dass die Lage wohl etwas außer Kontrolle geraten war.

Die Musik hatte bereits versagt und er überlegte sich schon, wie er seinem Vater den plötzlichen Verlust seiner Anlage erklären sollte: `Deine Tochter hat auf unserem Klo mit meinem besten Freund gevögelt und als ich deshalb noch mehr getrunken habe, habe ich leider auf deinen CD-Player gekotzt. ´ Tja, zwar soll man seine Eltern nicht belügen, aber alles hatte seine Grenzen.

Aber das waren Sorgen von morgen. Jetzt mussten erst einmal die Leute verschwinden.

Der Regen, der in den letzten Stunden unablässig herunterkam, wurde etwas schwächer.

 

*

Noch 45 Minuten.

Die Spannung stieg ins Unerträgliche, doch er kostete sie voll aus. Bis zum letzten Moment wollte er sie voll auskosten und sich von nichts anderem ablenken lassen.

 

*

Einige mussten erst bearbeitet werden. Doch schließlich gaben sich auch die letzten damit zufrieden, ein paar Flaschen Bier einzusacken und sich auf den Heimweg zu machen.

Langsam ging er noch einmal zu Rachel, um sich bei ihr zu entschuldigen.

Sie nahm die Entschuldigung an und willigte sogar ein, sich von Jakob nach Hause bringen zu lassen.

Das war sein Glückstag! Das konnte er laut sagen.

*

Noch 20 Minuten. Die Muskeln, die schon seit geraumer Zeit still lagen, begannen leicht zu zucken. Ein Schweißtropfen rann ihm den Rücken herunter, als ob einer der wenigen Regentropfen, die noch gegen die Fenster fielen, sich in seinen Nacken verirrt hätte.

*

Auf dem Weg streiften sich des Öfteren ihre Hände, doch spürte er noch immer ein leichtes Stechen in seinem Schritt. Unter anderen Umständen hätte er die Situation vielleicht genutzt, doch fand er es besser, nun erst einmal ein wenig zu warten.

Es werden sich schon noch andere Gelegenheiten ergeben.

Sie bogen in ihre Straße ein. Wenige Meter vor ihnen stand bereits das Haus ihrer Eltern wie eine riesige Wand, die ihn nun von seiner Rachel trennen sollte.

Er führte sie noch vor ihre Haustür.

Langsam durchsuchte sie ihre kleine Handtasche nach ihrem Wohnungsschlüssel, steckte ihn in das Schloss und drehte - sich noch einmal nach ihm um.

Ihr Gesicht lächelte leicht, als sie ihre Augen schloss und ihre Lippen leicht die seinen berührten.

Sofort schoss ihm das Blut ins Gesicht, seine Beine wurden locker, und ehe er sich versah, trat er verlegen einige Schritte zurück. Mit einem Grinsen im Gesicht fragte er noch, ob sie morgen Zeit hätte.

Als er eine flüsternde Zustimmung vernahm, rannte er bereits die Straße hinunter.

*

 

Er konnte schon die Schritte hören. Am liebsten wäre er aus dem Sessel gesprungen, um die Tür aufzureißen und seinen Gast willkommen zu heißen. Doch er hielt sich zurück und kostete die darauf folgenden Sekunden voll aus.

*

Jakob ging gerade um die Ecke, als er ein ohrenbetäubendes Scheppern hörte.

Entsetzt wirbelte er herum, als ein Hund aus einer Einfahrt schoss. Hinter ihm kam eine Mülltonne hinterhergerollt.

"Hey Flatscher, du hast mich vielleicht erschreckt."

Den restlichen Weg rannte er euphorisch dem Hund seiner Großeltern hinterher, bei denen er wohnte, bis Vater und Mutter wieder zurückkamen.

Völlig außer Atem, aber glücklich, steckte er den Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür.

Ein Luftzug strömte durch das Haus.

Oma hatte wohl wieder vergessen, das Küchenfenster zu schließen.

Als er langsam durch den Flur schlich, erkannte er einen fremden Mann, der ihn vom Wohnzimmersessel aus breit angrinste.

Der Schrei blieb ihm im Hals stecken.

"Hab keine Angst, Jakob. Ich will mich nur mit dir unterhalten. Ich bin ein neugieriger Mensch."

*

Während Sie hier sitzen und meine Geschichte lesen, frage ich mich des Öfteren, was Ihnen bei dieser oder jener Stelle wohl durch den Kopf gegangen ist.

Ich bin nun mal ein sehr neugieriger Mensch und interessiere mich für die Meinungen anderer Leute.

Aber am besten frage ich Sie persönlich.

Drehen Sie sich doch bitte mal um. Ich schaue den Leuten gerne in die Augen, wenn ich mit ihnen rede.

ENDE ??